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30 Jahre Textilforum und 20 Jahre ETN

Ein Rückblick von Dietmar Laue

History

Die Gründer der Zeitschrift TEXTILFORUM und des Europäischen Textil-Netzwerks (ETN), Beatrijs Sterk und Dietmar Laue, empfinden sich als glücklich Gescheiterte angesichts der selbst gesetzten Ziele.
Glücklich macht immer wieder die Beschäftigung mit einer Materie, von der wir wissen, dass sie zu den existenziellen Grundbedürfnissen des Menschseins gehört und zu jeder Zeit in der menschlichen Geschichte bewundernswerte kulturelle Ausformungen erfährt. Die Sorge um das Textile steht gleichbedeutend neben den Sorgen um die Behausung, Nahrung, Gesundheit und die Fähigkeit zur Verständigung. Der Architekt Gottfried Semper, der im 19. Jh. lebte, schrieb einmal: „Der textilen Kunst gebührt der unbedingte Vorrang, weil sie sich gleichsam als Urkunst zu erkennen gibt, dass alle anderen Künste ihre Typen und Symbole aus der textilen Kunst entlehnen, während sie selbst ganz selbstverständlich erscheint“. Bis hin zu dem folgenden Zitat des französischen Künstlers und Buchautors unserer Tage, Patrice Hugues, offenbart sich die ganze Dramatik, der das textile Thema unterliegt: „Wie konnte es geschehen, dass eines der reichsten und verbreitetsten Ausdrucksmittel der Menschheit sich immer mehr verlor und zu solcher Bedeutungslosigkeit herabsank? Und dies vor allem im Abendland? Welches sind die Gründe? Und wie groß ist der Schaden, der uns daraus erwachsen ist? – Es steht im direkten Verhältnis zu gewissen Mängeln, zu der Zusammenhanglosigkeit, die wir zwischen unserem Körper und unserem von Technik und Intellekt geprägtem Leben empfinden. Auch unsere Unfähigkeit, spontan und ungezwungen miteinander umzugehen, rührt daher.“
Als Gescheiterte empfinden wir uns, gegen die Bedeutungslosigkeit des Textilen in unserer Gesellschaft etwas ausrichten zu wollen. Nach 8 Jahren unserer Zeitschrift, die damals noch Deutsches Textilforum hieß, wollten wir schon unsere redaktionelle Arbeit einstellen und kündigten unter der Überschrift „Acht Jahre Textilforum e.V.“ in DTF 3/89 diesen Schritt an. Dann ging die Berliner Mauer auf und es fielen bis Jahresende alle Bar- rieren zum Osten Europas.
Das brachte uns einen neuen Energieschub. Wütend wegen des neu entfachten Nationalismus in Deutschland suchten wir nach Möglichkeiten zur Überwindung der Sprachlosigkeit zwischen dem Westen und dem Osten unseres Kontinents, wenigstens in unserem Wirkungsbereich, dem der textilen Kultur.
Ab Februar 1990 nahmen wir zu über 200 Adressaten in den Ländern des ehemaligen Ostblocks Kontakt auf und luden sie ein, mit uns und unseren Kollegen im Westen Europas den Dialog aufzunehmen. Daraus entstand das Europäische Textil-Netzwerk (ETN) und 1991 gleich nach der ersten Konferenz in Erfurt, einer Universitätsstadt der DDR, eine Art Manifest zu dem, was wir als ETN-Mitglieder im Bereich textiler Kultur für gemeinsame Aufgaben hielten.
Bei der Europäischen Union trafen wir auf EURATEX, eine Lobbygruppe der europäischen Textil- und Bekleidungsindustrie, die sich ausschließlich um die wirtschaftlichen Belange unserer Zunft kümmert. Die gesamte EU hatte damals keinerlei kulturpolitische Zuständigkeiten. Wir aber wollten für eine kulturelle Präsenz bei den europäischen Institutionen eintreten und unternahmen in dieser Richtung zweierlei Schritte:
1. Der Europarat in Strasbourg betrieb damals zusammen mit der UNESCO in Paris sogenannte Seidenrouten. Wir setzten uns beim Europarat dafür ein, dass daraus Europäische Textilrouten in der Trägerschaft von ETN wurden.
2. Nachdem mit den Maastrichter Verträgen auch die EU ab 1992 ein kulturpolitisches Mandat erhalten hatte, wollten wir der EURATEX einen Kulturpartner hinzufügen, der mittels der NET-Kulturstiftung, die wir zusammen mit Vertretern aus der Textilindustrie und Textilregionen/-städten 1997 gegründet hatten, koordiniert agieren sollte und dem ETN-Netzwerk eine ökonomische Basis bieten.
Vorbereitend für ein „Netzwerk der Textilregionen“ hatten wir in TF 3/1994 das in Angriff zu nehmende Aufgabenspektrum skizziert:
1. Systematische Pflege des zeitgenössisch produzierten textilen Kultur-erbes (mittels Textildesignsammlungen),
2. Gründung einer europäischen Sommerakademie für Textilgestaltung (geregelter internationaler Informations- und Erfahrungsaustausch),
3. Entwicklung eines Kunst & Industrie-Workshopprogramms, 4. Einrichtung von Kreativitätszentren in jeder Textilregion für die Fortbildung textiler Kommunikatoren in Beruf und Gesellschaft – und schließlich
5. Einführung von internationalen Wettbewerben zur Verbesserung der textilen Alltagskultur (Textilkunst/-design im öffentlichen Raum), auch als wiederkehrender PR-Anlass für die öffentliche Diskussion.
Diesen Programmanspruch mussten wir nach vielen vergeblichen und kraftraubenden Anläufen 2007 aufgeben.
Die eigens 1997 für diese Zwecke in Brüssel gegründete internationale NET-Kulturstiftung zur Förderung der ETN-Ziele stellte ihre Arbeit ein und verschwand von der ETN-Website im Internet. Es hatte an Unterstützung seitens der europäischen Textil- und Bekleidungsindustrie und seitens der betreffenden Textilstädte und -regionen gefehlt. Denn die Industrie befindet sich mit häufig ausgetauschten Adressaten in einem ständigen Strukturwandel und die politischen Entscheidungsgremien wechseln laufend ihr Personal, so dass von diesen Seiten keine nachhal-tige Unterstützung zu erwarten ist. Kulturpoltische Infrastrukturmaßnahmen auf internationaler Ebene sind demnach Glückssache oder versacken sofort in bürokratischer Routine, wie z. B. die Kulturförderung der Europäischen Union.
Nach dem 2007 eingestandenen Scheitern unserer programmatischen Anstrengungen besteht die Zeitschrift Textilforum nur noch als eine leicht zu übersehende Blume in der Presselandschaft und ETN als ein Netzwerk mit gestutzten Flügeln. Wir haben die gesellschaftlichen Mechanismen aus eigenem Erleiden erlebt, die zur Bedeutungslosigkeit des Textilen beitragen und halten sie unter den gegebenen Umständen für unüberwindlich. Was bleibt zu tun? Wir stehen im 30. Jahr unserer glücklich machenden Tätigkeit vor dieser Frage, deren Antwort uns zu unserem Glück noch fehlt.

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Hannover, den 1. April 2011